23. 07. 2022

Human Remains-Projekt abgeschlossen, Repatriierung der Schädel wird angestrebt

Nach 18 Monaten intensiver Forschung und Vermittlungsarbeit ist das Human Remains-Projekt „Provenienz und Geschichte der Sammlung indonesischer Schädel der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha“ zu Ende gegangen. Im Vortragssaal des Landschaftshauses hat das Projektteam an diesem Freitag seine wissenschaftlichen Ergebnisse und mit ihnen das Magazin „Menschen – Human Remains in der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha“ vorgestellt. Stiftungsdirektor Dr. Tobias Pfeifer-Helke erläuterte, was nun mit den 33 menschlichen Schädeln geschehen soll, die während der Kolonialzeit in die herzogliche Sammlung kamen.

 

Das Projekt im Überblick

Ein internationales Team unter Leitung von Adrian Linder M.A., Ethnologe und assoziierter Forscher am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern, erforschte die Provenienz von insgesamt 41 menschlichen Schädeln in der Gothaer Sammlung. 33 sind noch vorhanden und konnten von der Osteoanthropologin Kristina Scheelen-Nováček M.A. näher untersucht werden. Von indonesischer Seite unterstützte das Institut für Dayakstudien-21 in Palangka Raya im Süden Borneos das Forschungsvorhaben. Das Projekt wurde vom Deutschen Zentrum Kulturverluste in Magdeburg gefördert.

Sarah Fründt, wissenschaftliche Referentin am Fachbereich Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, sagt: „Menschliche Überreste haben im Rahmen unserer Förderung einen besonderen Stellenwert. Denn hier handelt es sich nicht um Objekte, sondern um die Überreste von Personen, die unter Umständen noch Hinterbliebene oder Angehörige haben. Hier zu einer Rückgabe und damit zu einem angemessenen Umgang mit den sterblichen Überresten beizutragen, ist uns ein sehr wichtiges Anliegen.“

„Auf der Suche nach den Spuren ihres Lebens und Sterbens versucht die Provenienzforschung, die stumm gemachten Randfiguren zur Sprache zu bringen“, sagt Linder. Dies ist ihm und den beteiligten Wissenschaftler*innen aus Europa und Indonesien gelungen. Sie konnten einigen der Menschen, von denen die Schädel stammen, ihre Identitäten zurückgeben und Rückschlüsse auf ihr Leben – auf ihre Lebensgewohnheiten, Erkrankungen und Todesumstände – ziehen.

Diesen 19 Menschen, deren Schädel sich in Gotha befinden, konnte ihr Name zugeordnet werden: Frobolo, Abdul Rahman, Tjia Ah-Su, Ka Apat, Bi Ah-Boie, Yi Seng, Djënagan Ahsan, Simien, Indian oder Endang, August, Thing Ho, Anang, Intje Dongar, Tjimat, Goesti Koesin, Besie, Johannes Lumeke, Bo', Matahé.

Die Forscher haben darüber hinaus einen genauen Blick auf die Sammlungsgeschichte geworfen und dokumentiert, wie Objekte ihren Status im Laufe ihrer Geschichte je nach Betrachtungsweise und Betrachter veränderten. So wandelten sich einige Schädel beispielsweise auf dem Weg ins Museum von einer Trophäe zu einem „zoologischen Gegenstand“. Eine Neueinordnung innerhalb der Sammlung vom Kunst- ins Naturalienkabinett hatte stattgefunden.

Auch wie eng eine vermeintlich periphere herzogliche Sammlung mit der Eroberung kolonialer Gebiete verflochten ist, hat sich gezeigt. Mittels akribischer Recherche in Inventarbüchern, Katalogen und zeitgenössischen Dokumenten, in niederländischen wie indonesischen Zeitungen, beim Durchforsten der herzoglichen Korrespondenz und mithilfe von detektivischer Arbeit quer durch Archive und Depots anderer europäischer Museen und Bibliotheken, im Austausch mit anderen Forschern und Dank des Know-hows des Gothaer Teams konnte Linder ein Schlaglicht auf ein wenig bekanntes Kapitel Kolonialgeschichte werfen. So war der Kolonialismus in „Niederländisch-Indien“ (dem heutigen Indonesien) nicht auf einzelne Kolonialmächte beschränkt, sondern ein gesamteuropäisches Unternehmen, von dem viele profitierten. Neben den Niederländern waren auch Deutsche, Schweizer und Franzosen beteiligt. „Die Geschichte dieser Schädel ist eine Geschichte, die keine einfache Unterscheidung zwischen Guten und Bösen erlaubt. Hier scheinen alle Seiten von Gewalt gefangen“, sagt Linder.

Lücken und Ungewissheiten bleiben bestehen; der Verbleib von acht Schädeln ist nicht geklärt, einige Angaben in den Museumsunterlagen konnten nicht überprüft und einige Identitäten nicht rekonstruiert werden.

 

Einige Zahlen:

  • Der Großteil der Schädel stammt von jungen Männern, die zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen etwa 18 und 35 Jahre alt waren. Lediglich einer der Männer war bereits über 40 Jahre alt. Ein Schädel stammt von einer Frau, die mit maximal 30 Jahren verstarb.
  • Mindestens zehn Schädel stammen aus dem Stadtspital von Batavia (heute Jakarta), sieben von Personen aus Borneo.
  • Fünf oder mehr Schädel sind Kriegstrophäen.
  • Drei oder mehr Personen wurden gehängt.
  • Die Schädel wurden zwischen 1862 und 1880 von neun verschiedenen Männern dem Herzog geschenkt.

 

Ergebnisse der osteoanthropologischen Untersuchung

Die Schädel lassen sich zweifelsfrei einem kolonialen Kontext aus Niederländisch-Indien zuordnen. Neben den Beschriftungen direkt auf der Knochenoberfläche belegen dies auch die Beschriftungen der Sockel sowie die teils auf die Schädel aufgeklebten Zettel mit handschriftlichen Informationen zu den Verstorbenen.

Bei der Mehrheit der Schädel fanden sich charakteristische Spuren einer Präparation, wie etwa Schnittspuren vom Entfernen des Weichgewebes oder Seifenreste vom Entfetten durch Auskochen bzw. Einlegen in Seifenlauge.

Mehrere Schädel weisen Spuren von perimortal (um den Todeszeitpunkt herum) entstandener Gewalteinwirkung auf. In zwei Fällen, bei wahrscheinlich hingerichteten Personen, ist davon auszugehen, dass die Köpfe unmittelbar nach dem Tod vom Rumpf abgetrennt und dann auf einem spitzen Objekt, wie beispielsweise einem Speer oder einer Lanzenspitze, aufgespießt wurden. Begleitende Funde von Fliegenpuppen bei zumindest einem dieser Schädel legen die Vermutung nahe, dass die noch mit Weichgewebe bedeckten Schädel über eine längere Zeit (mehrere Tage oder sogar Wochen) offen zugänglich für diese Insekten waren – zum Beispiel, weil sie öffentlich ausgestellt wurden; eine damals auch in Europa gängige Praxis.

Weitere Verletzungen lassen sich vermutlich auf zwischenmenschliche Gewalt (Kämpfe) zurückführen. Es handelt sich dabei um ausgeheilte Verletzungen durch stumpfe Gegenstände, wie Stöcke, Keulen oder Schleudersteine. Perimortal entstandene Hiebverletzungen im Gesichts- und Stirnbereich, die in zwei Fällen nachgewiesen wurden, sind auf scharfe Gewalteinwirkung durch Klingenwaffen zurückzuführen.

Viele der Schädel weisen Spuren chronischer Mangel- oder Infektionskrankheiten auf. Häufig fanden sich Hinweise auf das Vorliegen eines chronischen Vitamin C-Mangels (Skorbut). Dieser Befund deutet auf eine massive und langfristige Unterversorgung an vitaminhaltiger Nahrung hin. Oftmals fanden sich zudem Spuren einer Anämie (Blutarmut). Diese könnten sowohl auf Mangelernährung (Eisen- oder Proteinmangel), aber auch auf Krankheiten wie Malaria, Beriberi oder einen Parasitenbefall des Darmtraktes zurückzuführen sein.

Auf Grundlage der Schriftquellen und vor dem Hintergrund, dass viele der Männer gefangengenommene Freiheitskämpfer waren, legen diese Befunde einen kausalen Zusammenhang mit längeren Aufenthalten in Gefängnissen oder Gefängnisspitälern vor dem Tod nahe. Insbesondere die durch einen Thiaminmangel hervorgerufene Beriberi-Krankheit war während des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter den Insassen von Gefängnissen, Heilanstalten oder Ähnlichem in Süd- und Südostasien besonders stark verbreitet. Mehrere der untersuchten Schädel zeigen Merkmale einer Tuberkuloseerkrankung.

 

Das nicht Sichtbare sichtbar machen – Vermittlung

Zu Projektbeginn hatte die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha entschieden, die Schädel nicht auszustellen oder zur Schau zu stellen – weder in Vitrinen noch auf Fotos. Dies stellte die im Projekt für Wissenschaftsvermittlung zuständige Kulturwissenschaftlerin Dr. Claudia Klein vor eine große Herausforderung. Sie stand vor dem Dilemma, einen sensiblen Bestand, der nicht sichtbar sein durfte, sowie die Forschung daran sichtbar zu machen. Und dies inmitten einer öffentlich und leidenschaftlich geführten Debatte über Provenienzforschung, koloniale Kontexte und Human Remains in musealen Sammlungen. Klein sagt: „Im bildgeprägten (Museums)Raum eine neue Bildsprache zu finden, das war eine Gradwanderung zwischen allzu Offensichtlichem und befremdlich Unverständlichem.“

Die Stiftung hat die Flucht nach vorn angetreten. Sie hat die Abwesenheit ins Zentrum gerückt und möglichst sachlich die Leerstelle in den Blick genommen. Fotos einer kühlen, modernen Vitrine, aus der das Objekt entfernt wurde, oder eines alten, nackten Sockels mit der Aufschrift „Javanese“ rücken nicht das Ausstellungsobjekt, sondern seine Abwesenheit ins Zentrum. Statt des museumsüblichen Exponats standen – in Übereinstimmung mit dem akteurszentrierten Ansatz der Forschungsarbeit – die Handelnden im Vordergrund. Wissenschaftler*innen der Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Anthropologie und Provenienzforschung präsentierten ihren jeweils spezifischen Blick auf das sensible Sammlungsgut – in Form von Vorträgen oder im direkten Gespräch mit dem Museumspublikum. So ging es bei der Vermittlungsarbeit um Sprechen statt Zeigen und darum, die eigenen Fragen, Zweifel, Grenzen und Widersprüche zu thematisieren.

Kurzfilme, Interviews, Vorträge sowie Gesprächsformate begleiteten die 18-monatige Forschung. Auf der Website www.friedenstein.eu/human-remains sind diese festgehalten, flankiert von 13 Infofilmen, teils barrierefrei und mehrsprachig. Hier ist auch der Download des Magazins „Menschen – Human Remains in der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha“ möglich. Die Publikation bringt dem Leser Thematik, Methodik und Resultate des Projekts auf anschauliche Weise näher und macht deutlich, wie museale Vermittlung auch ohne Ausstellung funktionieren kann.

 

Was nun? Die Repatriierung der Schädel

Die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha strebt eine Repatriierung der Schädel an. Auf Empfehlung von Adrian Linder regt sie an, zu diesem Zweck eine internationale Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, die in Koordination mit der indonesischen Repatriierungskommission alle nächsten Schritte unternimmt. Teil dieser Arbeitsgruppe sollten neben dem Auswärtigen Amt sowie der Botschaft in Jakarta europäische Institutionen sein, welche die Thematik „Rückführung von menschlichen Überresten aus der Sammlung“ beschäftigt. Da eine sorgfältige Koordinierung und ein fein abgestimmtes Vorgehen mit den verschiedenen Akteuren nötig ist, wird eine Repatriierung nicht kurzfristig möglich sein.

Pfeifer-Helke sagt: „Das wissenschaftliche Projekt hat einerseits erforscht, wer die Menschen waren, deren Schädel sich heute in der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha befinden. Andererseits gibt der Abschlussbericht Empfehlungen zum weiteren Umgang mit diesem Museumsbestand. Klar ist heute, dass wir die Schädel repatriieren werden. Der wissenschaftliche Bericht macht keinen Hehl daraus, dass hier die europäischen und indonesischen Einrichtungen gemeinsam eine Lösung anstreben müssen. Auch ist deutlich geworden, dass diese sehr spezifische Sammlung in Gotha eingebunden ist in einen größeren, internationalen Zusammenhang, den wir auch immer mitdenken müssen.“

Im Alleingang ist eine Repatriierung nicht möglich. Außerdem ist diese ohne ausdrückliche Forderung oder Bitte aus Indonesien nicht durchführbar. Es hat sich gezeigt, dass das Interesse in Indonesien an der Rückführung der Schädel unterschiedlich ausfällt. Während das Interesse in Borneo sich vor allem auf menschliche Überreste des Kriegshelden Demang Lehman konzentriert – sein Schädel befindet sich nicht in den Gothaer Sammlungen –, haben sich verschiedene Regierungsvertreter im Rahmen eines Seminars des Instituts für Dayakstudien-21 für eine Rückführung von Schädeln und eine Beisetzung auf einem Heldenfriedhof ausgesprochen.

 

Human Remains